wenn Blickkontakt weh tut

Mangelnder Blickkontakt

Wenn Blickkontakt weh tut

Viele Menschen mit Autismus können Blickkontakt nicht herstellen oder aushalten. Das Vermeiden von Blickkontakt gehört deswegen auch zu den Diagnosekriterien. Es ist ein oft besprochenes Thema. Nicht zuletzt, weil es auch therapeutisch sehr umstritten ist.

Augen – die Fenster zur Seele

Augen sind der zentrale Bestandteil eines Gesichtes. Wir neigen dazu, überall wo zwei Punkte auftauchen, ein Gesicht zu sehen. Wir sehen Gesichter z.B. in Häuserfronten, Autoscheinwerfern oder der Maserung im Holz. Nase, Mund und andere Gesichtsmerkmale treten dabei in den Hintergrund. Es sind die Augen, die das dominante Erkennungsmerkmal eines Gesichts darstellen. Wenn wir ein Gesicht zeichnen wollen, beginnen wir mit den Augen als Ausgangspunkt für weitere Details.

Man sagt, Augen seien die Fenster zur Seele. Der Grund dafür ist, dass wir aus den Augen unseres Gegenübers viel über dessen Befinden und seine Absichten erfahren. Wir erkennen, dass andere Menschen uns Aufmerksamkeit entgegenbringen, weil sie uns anblicken. Wir erkennen auch an der Bewegung des Blickes, was sie als nächstes tun werden.

Augen sind also ein wichtiges Ausdrucksmittel. Sie sind zentraler Bestandteil der nonverbalen Kommunikation.

All diese Informationen werden von Menschen, die Blickkontakt nicht ertragen können, weder aufgenommen noch interpretiert.

Warum Menschen mit Autismus Blickkontakt vermeiden.

Jedem wird schon einmal aufgefallen sein, dass es schwierig ist, jemand anderem lange in die Augen zu blicken. Der durchschnittliche Blickkontakt dauert 3,3 Sekunden¹. Danach wird er langsam unangenehm. Das liegt daran, dass der dafür zuständige Bereich im Gehirn überlastet wird. Bei Menschen mit autistischer Wahrnehmung kann diese Überlastung schon viel früher eintreten. In einer Studie² konnte gezeigt werden, dass die betreffenden Hirnareale durch eingeforderten Blickkontakt eine erhöhte Aktivierung aufwiesen und bei den autistischen Probanden Stress auslösten.

Sie empfinden Blickkontakt als unerträglich, als Brennen oder Stechen. Es ist ein Gefühl, das unbedingt vermieden werden muss. Dies ist auf eine Übersensibilität, also eine visuelle Wahrnehmungsbesonderheit, zurückzuführen.

Was bedeutet das für einen Menschen mit autistischer Wahrnehmung?

Man kann davon ausgehen, dass Mensch mit Autismus, die Blickkontakt vermeiden müssen, auch Gesichter schlechter erkennen und Mimik nicht deuten können. Die nonverbalen Informationen der Augen können nicht gesehen und interpretiert werden. Zum Erkennen von Personen werden dann andere Merkmale herangezogen. Das können Frisuren, Muttermale, der Bart des Vaters oder die Narbe am Kinn des Bruders sein.

Die Annahme, dass man erst wahrgenommen wird, wenn Blickkontakt besteht, gilt nicht für den Umgang mit Menschen mit autistischer Wahrnehmung. Dennoch halten sich falsche Vorstellungen und Behauptungen über die Ursache von mangelnden Blickkontakt.

Was bedeutet mangelnder Blickkontakt nicht?

Mangelnder Blickkontakt bedeutet keineswegs

  • mangelnde Aufmerksamkeit,
  • Desinteresse,
  • Ablehnung,
  • schlechte Umgangsformen,
  • Schüchternheit oder Scham,
  • die Tatsache, dass man etwas verbergen muss oder
  • mangelnde Intelligenz.

Wie begegnet man einem Menschen, der Blickkontakt vermeidet

Menschen mit übersensibler visueller Wahrnehmung haben ihre eigenen individuellen Möglichkeiten, Informationen aufzunehmen. Es ist daher einfühlsamer, sich nicht auf das Einfordern von Blickkontakt zu konzentrieren, sondern den betroffenen Menschen zu unterstützen, Informationen auf seine eigene Art und Weise aufzunehmen.

Fehlende Informationen, die üblicherweise über die Augen nonverbal transportiert werden, können auch „in Worte gefasst“ und erklärt werden. Statt ein ironischer Blick kann ein Nachsatz wie „ich meine natürlich genau das Gegenteil“ hilfreich sein. Aufgrund der Tatsache, dass Menschen mit Autismus Sprache wortwörtlich verstehen, empfiehlt es sich ohnehin, auf Ironie und Zweideutigkeit zu verzichten.

Für viele Menschen mit autistischer Wahrnehmung ist es sehr schwierig, sich auf mehr als eine Sache gleichzeitig zu konzentrieren. Man nennt das intermodale Wahrnehmungsstörung. Da eingeforderter Blickkontakt nichts Natürliches für den Betroffenen darstellt, muss er sich darauf konzentrieren, diese Anforderung zu erfüllen. Er muss sich dann entscheiden, ob er „sieht“, „spricht“ oder „hört“. Alles gleichzeitig führt zu Reizüberflutung. Ein Meltdown kann die Folge sein. In diesem Falle wäre Blickkontakt also kontraproduktiv und nicht nützlich.

Die gute Nachricht für Menschen mit autistischer Wahrnehmung

Eine Studie³ konnte in einem einfachen Experiment zeigen, dass Menschen nicht unbedingt in die Augen ihres Gesprächspartners schauen müssen, damit dies als Augenkontakt wahrgenommen wird. Es genügt, mit den Augen einfach irgendwo ins Gesicht zu blicken, z. B. auf den Mund oder die Ohren. Das nennt man Augenkontakt-Illusion. Also kann es sehr hilfreich sein, dem Gegenüber einfach auf den Mund zu schauen, damit er zufrieden ist.

 

Quellen:

¹Binetti, N., Harrison, C., Coutrot, A., Johnston, A., & Mareschal, I. (2016). Pupil dilation as an index of preferred mutual gaze duration. Royal Society open science3(7), 160086. https://doi.org/10.1098/rsos.160086

²Hadjikhani, N., Åsberg Johnels, J., Zürcher, N.R. et al. (2017) Look me in the eyes: constraining gaze in the eye-region provokes abnormally high subcortical activation in autism. Sci Rep 7, 3163. https://doi.org/10.1038/s41598-017-03378-5

³Rogers, S. L., Guidetti, O., Speelman, C. P., Longmuir, M., & Phillips, R. (2019). Contact Is in the Eye of the Beholder: The Eye Contact Illusion. Perception48(3), 248–252. https://doi.org/10.1177/0301006619827486