Wunschdiagnose Autismus

… ich möchte niemanden beleidigen, aber es muss einmal gesagt werden

In den letzten Jahren beobachte ich die unverhältnismäßige Häufung von Menschen, die meinen, Autisten zu sein. Vorzugsweise natürlich Asperger-Autisten. Diese Menschen sind in den Medien sehr präsent und glauben für andere Menschen mit Autismus das Wort ergreifen zu müssen. Das macht mich zunehmend stutzig und auch viele Betroffene fühlen sich von diesen Menschen nicht wirklich vertreten. Jetzt kann das natürlich daran liegen, dass jemand aufgrund der Diagnose nicht nachvollziehen kann, dass andere Menschen andere Bedürfnisse haben als man selbst. Das wäre naheliegend. Es kann aber auch durchaus sein, dass einige dieser Menschen nur glauben, Autisten zu sein.  

Wie komme ich darauf?

Ich beobachte eine auffallende Tendenz, dass Menschen mit psychischen Problemen oder Störungsbildern, die mit der Gesellschaft nicht zurechtkommen, sich selbst als Autisten bezeichnen oder sich von unerfahrenen Diagnostikern als Autisten diagnostizieren lassen. Manche machen einen Selbsttest im Internet und schließen daraus, dem Autismus-Spektrum anzugehören. Dabei stellt die Diagnose Asperger-Autist für sie eine akzeptable Erklärung ihrer Probleme dar. Andere Diagnosen einer psychischen Störung oder auch einfach eines schwierigen Charakters empfinden sie als unangenehm und intolerabel. Nicht zuletzt aufgrund der idealisierenden Darstellung in etlichen Filmen und Dokumentationen in den Medien, die Menschen mit Autismus als hochintelligente und lediglich missverstandene Charaktere darstellen, wie auch Vermutungen, dass einige Genies der Geschichte wie Einstein oder Mozart, Autisten gewesen sein könnten, machen diese Diagnose erstrebenswert. Manchmal liest man auch Bill Gates oder Elon Musk hätten Autismus. Dem gegenüber steht die groteske mediale Darstellung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die zumeist als unzurechnungsfähig und/oder gefährlich dargestellt werden. 

Ich habe durchaus Verständnis für die Situation der Betroffenen. Wenn sich jemand mit der Diagnose besser und akzeptierter fühlt, soll er sie für sich verwenden. Aber bitte nur im privaten Kreis und nicht öffentlich oder gar stellvertretend für andere Menschen aus dem Autismus-Spektrum.

Die korrekte Diagnosestellung ist ein aufwendiger Prozess, der nur von erfahrenen Diagnostikern durchgeführt werden darf. Selbsttests aus dem Internet haben keinerlei Aussagekraft. Sie sind irreführend und nicht ungefährlich. Andere Diagnosen oder schwerwiegende psychische Probleme können dadurch übersehen werden und schwere Folgen für die Betroffenen und deren Angehörige nach sich ziehen, weil durch die falsche Annahme, Autismus zu haben, wichtige therapeutische Maßnahmen nicht ergriffen werden.

Deswegen appelliere ich an alle, die vermuten, sie könnten autistisch sein: Zeigt verantwortungsvolles Verhalten. Nur eine gesicherte Diagnose einer seriösen Einrichtung und/oder eines erfahrenen Diagnostikers kann Gewissheit bringen. Und ich möchte noch anmerken, dass das Vorbereiten auf das Diagnoseinterview einerseits die Diagnose verfälscht, was wie oben erwähnt, weitreichende negative Folgen haben kann. Andererseits ist es für einen erfahrenen Diagnostiker offensichtlich, wenn jemand versucht, autistisch zu wirken.

 

 

Einige Quellen für jene, die es ganz genau wissen wollen:

Dose, M. (2009): Vorschnelle Selbstdiagnose Asperger-Syndrom. URL: http://www.root.webdestination.de/kunden/01extern/bdn_redaktion_ssl_neu/upload/32_36_7.pdf (abgerufen am 9.8.2020)

Kamp-Becker, I. Remschmidt, H. (2006): War Albert Einstein ein Asperger Autist? Nervenheilkunde 5(32): 319-324

Kästner, A., Begemann, M., Michel, TM. et al. (2015): Autism beyond diagnostic categories: charaterization of autistic phenotypes in schizophrenia. BMC Psychiatry 15: 115

Dose, M. (2010): Erwachsenenalter. In: Noterdaeme, M., Enders, A. (Hrsg.) Autismus-Spektrum-Störungen. Stuttgart: Kohlhammer. S. 226-238