Helfen oder Akzeptieren?
über die Herstellung von Differenz
Um es gleich vorweg zu nehmen, ich finde, dass Autismus keine Krankheit ist, die geheilt werden muss. Es ist eine andere Form des Daseins, eine Andersartigkeit, die keiner Korrektur bedarf. Allerdings kann diese Andersartigkeit für die Betroffenen ein Problem darstellen. Zusätzlich ist sie oft mit Begleitsymptomen verbunden, die unangenehm oder auch schmerzhaft sind. Dies reicht von Überempfindlichkeit gegenüber externen und internen Reizen, Schlaflosigkeit, Bauchschmerzen, Hyperaktivität, Konzentrationsproblemen, Stuhlproblemen usw. Diese Symptome kann man nicht einfach akzeptieren und gutheißen, weil sie Lebensqualität vermindern. Hier besteht Handlungsbedarf um Lebensqualität herzustellen und zu erhalten.
Jetzt gibt es aber Menschen, die die Meinung vertreten, jede Form von Hilfe, therapeutisch oder medizinisch, sei ein Angriff auf die Persönlichkeit von Menschen mit Autismus.
Obwohl ich dafür einstehe, dass man Menschen mit Autismus so akzeptieren muss, wie sie sind und sie nicht „heilen“ oder „anpassen“ muss, kann ich den vehementen Vertretern dieser Ansicht nicht uneingeschränkt in allen ihren Forderungen zustimmen. Sie gehen davon aus, dass Akzeptanz und Entgegenkommen der Gesellschaft ausreichen um Menschen mit Autismus ein erfolgreiches und zufriedenes Leben zu gewährleisten. Und jeder, der versucht, eine Veränderung des Zustandes zu erwirken, wird angegriffen und des Unverständnisses und der Intoleranz bezichtigt. Ich stehe dieser Sichtweise aus folgenden Gründen kritisch gegenüber:
# 1: Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für die Entstehung von Autismus, es gibt jedoch keine allgemeingültige Ursache. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Autismus ganz unterschiedliche Ursachen haben kann. Daher kann man nicht davon ausgehen, dass die Gehirne von Menschen mit Autismus Veränderungen aufweisen. Neurotypische und Menschen mit Autismus sind also grundsätzlich gleich. So ist anzunehmen, dass die Andersartigkeit einer anderen Ursache als einer natürlich neurologischen Veränderung zugrunde liegt. Ursachen des Unwohlseins wie teilweise oben bereits beschrieben, liegen im Körper, im Stoffwechsel und nicht im Gehirn. Sie sollten nicht ignoriert und fälschlicherweise dem Autismus zugeordnet werden. Auch ist die Bandbreite der Symptome sehr groß, sie reichen von gering, verbunden mit Selbständigkeit und Erwerbstätigkeit bis hoch, verbunden mit hohem Pflegebedarf. Man kann also nicht von dem Autismus sprechen, weil die Ausprägungen zu individuell sind.
# 2: Ich stoße mich an dem Gedanken, eine neue „Gruppe von Menschen“ herzustellen, die sich über Andersartigkeit und nicht über Ähnlichkeit definiert. So bezeichnen sich Vertreter der von mit kritisierter Sichtweise betont als „Autisten“ und nicht als Menschen mit Autismus. Der Begriff „Menschen mit Autismus“ soll aber aussagen, das Autismus nur einen Teil der Person ausmacht und die Person nicht auf ihre Diagnose reduziert werden soll. Durch die Bezeichnung der Diagnoseinhaber als „Autisten“ segregieren sie sich zu einer Gruppe, die sie von sogenannten neurotypischen Menschen abgrenzen soll. Genau diese Denkweise ist es doch, die wir mit dem Inklusionsgedanken überwinden möchten. Wir möchten Unterschiede entdramatisieren und nicht hervorheben, so wie es in der Vergangenheit mit Eigenschaften wie Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht oder eben Behinderung geschehen ist. Ziel ist es Menschen als Menschen zu sehen, von denen jeder seine ganz individuellen Bedürfnisse hat und in seinem Sein angenommen wird und sich nicht in einer speziellen Gruppe segregiert. Man wird kein Miteinander erreichen, wenn man immer nur die Unterschiede hervorhebt und die Eigenarten des Anderen geringschätzt.
# 3: Leider muss ich in den letzten Jahren eine zunehmende feindliche Segregation in verschiedene Lager feststellen. Das geht soweit, dass Menschen, die anderer Meinung sind, beschimpft, gemobbt und verleumdet werden. Es werden Eltern, die verzweifelt sind, angeprangert, weil sie nicht glücklich sind, ein Kind mit Autismus auf die Welt gebracht zu haben, obwohl sie sehen, dass das Kind sein ganzes Leben fremdbestimmt betreut werden muss. Ärzten und Therapeuten wird vorgeworfen, an Menschen mit Autismus nur verdienen zu wollen. Und Menschen mit Autismus, die Hilfe suchen, werden ignoriert und als „schwarze Schafe“ behandelt. Ich finde es bedenklich, wenn Menschen über andere urteilen und sogar öffentlich herziehen, ohne je ein paar Meter in deren Schuhen gegangen zu sein.
# 4: Man kann nicht davon ausgehen, dass jemand, der es nicht gewohnt ist, mit Menschen mit Autismus umzugehen, die Andersartigkeit auf Anhieb versteht. Es bestehen Berührungsängste, die es zu überwinden gilt. Dies funktioniert aber nur dann, wenn man freundlich und verständnisvoll auf diese Menschen zugeht und ihnen hilft, Autismus zu verstehen. Sie für ihre Ängste und ihre Unwissenheit anzugreifen führt zur Ablehnung oder gar zu Aggression.
# 5: Viele Menschen mit Autismus sind glücklich mit ihrem momentanen Leben und vertreten das auch vehement. Das ist gut so. Aber was ist mit jenen, denen es nicht gut geht? Nicht alle sind glücklich mit ihrer Situation. Die Gruppe der glücklichen und zufriedenen Menschen darf sich nicht anmaßen für die anderen zu sprechen. Sie ignorieren damit die Realität derjenigen, die Hilfe brauchen und sprechen nur für sich selbst. Sie machen genau das, was sie sogenannten neurotypischen Menschen vorwerfen, mit ihnen zu machen: nicht zuhören und über ihre Köpfe hinweg zu sprechen und zu handeln.
Es ist ein Zeichen des Respekts, jedem die individuelle Freiheit zu lassen, zu entscheiden, wie er mit seinem Leben umgeht. Wer Hilfe braucht, soll sie erhalten. Aber anderen die Hilfe zu verweigern, nur weil es einem selbst gut geht, ist sicher der falsche Ansatz.
© Susanne Strasser