Kann eine gluten- und kaseinfreie Ernährung helfen, die Lebensqualität von Menschen im Autismus Spektrum zu verbessern?
Leider kursieren viele Gerüchte und Unwahrheiten über die gluten- und kaseinfreie (kurz: gfcf) Ernährungsweise. Sie wird als wirkungslos und sogar gefährlich bezeichnet. Manche Verfechter schießen weit über das Ziel hinaus und sprechen von Heilung des Autismus durch Ernährung. Gegner meinen, autistische Kinder werden durch die Ernährungsumstellung gequält und mangelernährt. Manche behaupten, dass Eltern, die ihre Kinder gluten- und kaseinfrei ernähren, diese auch mit Chlorbleiche-Einläufen und intensivster Verhaltenstherapie misshandeln. All das ist natürlich Unsinn und ich möchte mich gleich vorweg von all diesen Aussagen distanzieren. Autismus ist nicht heilbar. Dennoch bin ich der Meinung, dass vielen Menschen im Autismus-Spektrum (kurz: AS) durch die Durchführung einer gluten- und kaseinfreien Diät geholfen werden kann, ihre Lebensqualität zu verbessern.
Der medizinische Hintergrund für diese Annahme besteht in der Theorie des Opioidüberschusses nach dem esthnisch-US-amerikanischen Neurowissenschafter Jaak Panksepp¹. Die Opioidüberschuss-Theorie besagt, dass die aus Gluten und Kasein freigesetzten Opioidpeptide die Darmschleimhaut durchdringen, in die Blutbahn gelangen und so die Blut-Hirn-Schranke passieren können. Die Annahmen der Opiodüberschuss-Theorie wurden bislang weder endgültig bestätigt noch widerlegt2.
Ausgehend von dieser Theorie ist die Annahme, dass die Ursache also ein sog. „durchlässiger“ Darm (leaky gut) ist, durch den die Peptide aus Gluten und Kasein in den Blutkreislauf gelangen³, anstatt ausgeschieden zu werden. Auch andere Fehlreaktionen wie Allergien oder Unverträglichkeiten können so ausgelöst werden. Über die Blutbahn gelangen Opioidpeptide und auch andere Toxine in das zentrale Nervensystem und beeinträchtigen die Gehirnfunktion. Eine Untersuchung4 von Gehirngewebe von Menschen im AS ergab, dass auch die Blut-Hirn-Schranke – eine Barriere, die verhindert, dass unerwünschte Partikel ins Gehirn gelangen – durchlässig ist.
Zur Veranschaulichung zeigt die stark vereinfachte Abbildung links eine intakte Darmschleimhaut, rechts einen „durchlässigen Darm“.
Auch wenn die genauen Hintergründe, aus denen Menschen im Autismus-Spektrum von einer gfcf-Diät profitieren können noch nicht abschließend geklärt sind, zeigen jedoch etliche Studien positive Auswirkungen dieser Ernährungsform für Menschen im AS. Alleine auf google scholar (einer frei zugänglichen Datenbank für wissenschaftliche Texte) finden sich seit 2021 zu diesem Thema 220 Suchergebnisse (Stand 9.5.2023). Das zeigt, dass also nach wie vor daran geforscht wird.
Natürlich lassen sich nicht alle auffindbaren Studien hier aufführen. Exemplarisch sei allerdings eine quantitative Metaanalyse5 eines US-amerikanischen und chinesischen Ärzteteams aus unterschiedlichen Fachrichtungen genannt. Eine Metaanalyse ist eine wissenschaftliche Untersuchung, die mehrere bereits vorhandene Studien zusammenfasst und auswertet. In dieser Metaanalyse wurden 8 Studien mit insgesamt 297 Teilnehmern auf die Frage hin untersucht, ob eine gluten- und kaseinfreie Ernährung die Symptome von Autismus lindern und die neurologische Entwicklung von Kindern im AS erleichtern kann. Ebenso wurde der Frage nachgegangen, ob durch die Durchführung einer gfcf-Diät mit Mangelerscheinungen zu rechnen ist.
Die Ergebnisse der Metastudie zeigen eine signifikante Verringerung stereotyper Verhaltensweisen, wie auch eine signifikante Verbesserung der Kognition durch die Ernährungsintervention. In anderen symptomatischen Kategorien wurden keine statistisch signifikanten Veränderungen beobachtet.
Unter stereotypen Verhaltensweisen versteht man einerseits Stereotypien in Bewegung sowie andererseits das Bedürfnis nach Gleichförmigkeit des Alltags. Beides hat zumeist die außergewöhnliche Wahrnehmung von Menschen im AS als Ursache. Die Verhaltensweisen sind eine Reaktion auf die Umwelt, die entweder zu intensiv, zu schwach, ungefiltert oder verzerrt wahrgenommen wird. Stereotypien, Rituale und Gleichförmigkeit geben Sicherheit und können vor Reizüberflutung schützen. Daher kann man schlussfolgern, dass eine Verringerung stereotyper Verhaltensweisen eine Veränderung im Wahrnehmungsbereich als Ursache hat. Verbesserungen der Kognition bedeuten Verbesserungen in der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Sprache, des Denkens und des Problemlösens sowie des Lernens.
Alle untersuchten Studien stimmten darin überein, dass eine gfcf-Diät kein gesundheitliches Risiko aufgrund von Mangelernährung darstellt.
Die Schlussfolgerung der Metaanalyse im originalen Wortlaut:
The current meta-analysis showed that a GFCF diet can reduce the stereotypical behaviors and improve the cognition of children with ASD. Although there is no unified agreement regarding a mechanism to date, the current data concerning the benefits of a GFCF diet are promising. Studies with larger sample sizes, multicenter involvement, a double-blind design, and more sensitive measurements should be carried out in the future to validate the above conclusions.
Selbstverständlich gibt es auch Grenzen der Gültigkeit der Studien. Allen voran steht die geringe Anzahl der Probanden. Eine Studie wird umso aussagekräftiger, je mehr Probanden es gibt. Diese Metaanalyse umfasst nur 297 Probanden. Zehntausend Probanden wären besser gewesen, sind aufgrund vieler Faktoren jedoch nicht möglich gewesen. Auch der Zeitraum, in der eine Studie durchgeführt wird, sollte möglichst groß sein, um längerfristige Wirkungen bewerten zu können. Die meisten Studien dauerten kürzer als vier Monate. Die bisherigen Ergebnisse zeigen jedoch deutlich, dass es sich lohnen könnte, Längsschnittstudien mit hoher Anzahl an Probanden durchzuführen.
Es gibt aber auch Studien, die keinen Zusammenhang zwischen Autismus und Ernährung finden konnten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die bereits gefundenen Zusammenhänge nicht existieren würden oder gar „unwahr“ wären. In der Wissenschaft sind Ergebnisse niemals absolut oder allgemeingültig. Sie müssen ständig hinterfragt werden und zu neuer Forschung anregen.
Meine persönlichen Beobachtungen über die vergangenen 20 Jahre fokussieren vor allem auf komorbide Symptome wie gastrointestinale Beschwerden, Schlafstörungen und Hyperaktivität. Komorbiditäten bzw. komorbide Störungen sind diagnostisch abgrenzbare Krankheitsbilder, die zusätzlich zu einer Grunderkrankung vorliegen. Es handelt sich um häufig auftretende Begleiterkrankungen. Die in der Metaanalyse ausgewerteten Studien untersuchten zwar ledigich die Kernsymptome des AS (Kommunikationsschwierigkeiten, soziale Störung und stereotype Verhaltensweisen), doch wird auch eine Verbesserung der gastrointestinalen Beschwerden erwähnt.
Aus diesem Grund wäre die Untersuchung des Zusammenhangs von Ernährung und komorbiden Störungen bei Autismus interessant. Es existieren unzählige Befunde, die einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Darm- und Schlafprobleme sowie Hyperaktivität belegen. Doch diese Studien werden selten in Zusammenhang mit Autismus gemacht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass bei Menschen im AS Komorbiditäten oft als dem Autismus zugehöriges Symptom eingeordnet werden. Sie treten gehäuft bei Menschen im AS auf, sind aber trotzdem eigenständige Erkrankungen, die man behandeln soll und kann. Ein neurotypisches Kind mit gastrointestinalen Beschwerden, mit Schlafproblemen oder mit hyperaktivem Verhalten wie Unruhe, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen erfährt eine medizinische Behandlung zur Beseitigung dieser unangenehmen Symptome. Doch bei einem Kind im AS werden diese Auffälligkeiten oft als dem Autismus zugehörig und unbehandelbar abgetan. So entsteht unnötiger Leidensdruck. Deswegen ist es wichtig, die Ursache dieser Komorbiditäten zu finden und sie zu beseitigen. Die Ursache und die Lösung können oft in der Ernährung gefunden werden.
Zum Schluss möchte ich noch einen mir besonders wichtigen Sachverhalt betonen: Jeder Mensch ist individuell und es gibt keine Patentrezepte für alle Autisten dieser Welt. Was für den einen eine große Hilfe darstellt, kann für den anderen ein Desaster bedeuten. Das Autismus-Spektrum ist sehr groß und umfasst Menschen mit höchstem Leistungsniveau bis zu Menschen mit kognitiver Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf. So kann auch die Durchführung einer gfcf-Diät nicht für jeden Menschen im Autismus Spektrum vorteilhaft sein. Das muss jeder für sich selbst herausfinden.
Ich selbst arbeite seit über 30 Jahren mit Menschen im Autismus-Spektrum. In dieser Zeit habe ich Bildungswissenschaft und Psychologie studiert und mir eine Menge theoretisches und vor allem praktisches Fachwissen angeeignet. Außerdem – und das sehe ich durchaus als meine wertvollste Qualifikation an – bin ich Mutter einer Tochter im AS.
Meine Tochter wurde 20 Jahre lang gluten- und kaseinfrei ernährt. Durch die Ernährungsumstellung ergaben sich viele Verbesserungen ihrer Probleme. Vor allem Darm- und Schlafprobleme verschwanden. Heute ernährt sich meine Tochter wieder ohne Einschränkung und ich kann keine Verschlechterung der einst erreichten Verbesserungen bemerken, was vermuten lässt, dass der Darm sich erholt hat und Gluten und Kasein nun verdauen kann. Und selbstverständlich ist sie nach wie vor Autistin und das ist gut so. Dies deckt sich auch mit den zahlreichen Berichten anderer Eltern aus meiner Praxis.
Susanne Strasser, B.A., B.Sc.
Weitere Informationen zur Durchführung einer Ernährungsumstellung finden Sie auf glutenfrei-kaseinfrei.cooking
Nachsatz: Informieren Sie sich selbst über die Vielzahl an Studien, indem Sie z.B. auf „google scholar“ Schlagwörter wie „autism+gfcf“, „autism+diet“ oder „autism+nutrition“ eingeben. Berichte aus den Medien sind oft nur Meinungen ohne jeden überprüfbaren Hintergrund.
¹Panksepp, J. (1979). A neurochemical theory of autism. Trends in neurosciences, 2, 174-177.
²Tarnowska, K., Gruczyńska–Sękowska, E., Kowalska, D., Majewska, E., Kozłowska, M., & Winkler, R. (2021). The opioid excess theory in autism spectrum disorders-is it worth investigating further?. Critical Reviews in Food Science and Nutrition, 1-14.
³Lázaro, C. P., Pondé, M. P., & Rodrigues, L. E. (2016). Opioid peptides and gastrointestinal symptoms in autism spectrum disorders. Brazilian Journal of Psychiatry, 38, 243-246.
4Fiorentino, M., Sapone, A., Senger, S., Camhi, S. S., Kadzielski, S. M., Buie, T. M., … & Fasano, A. (2016). Blood–brain barrier and intestinal epithelial barrier alterations in autism spectrum disorders. Molecular autism, 7(1), 1-17.
5Quan, L., Xu, X., Cui, Y., Han, H., Hendren, R. L., Zhao, L., & You, X. (2022). A systematic review and meta-analysis of the benefits of a gluten-free diet and/or casein-free diet for children with autism spectrum disorder. Nutrition Reviews, 80(5), 1237-1246.