Interview der Kinder- und Jugendpsychologischen Beratungsstelle (KJB) mit
Susanne Strasser (Psychologie und Bildungswissenschaft mit Schwerpunkt Autismus, Mutter)
KJB: Ist folgende Aussage zutreffend? Die meisten Leute sehen in Autisten bis heute einen Mangel an Mitgefühl. Aber uns „Normalen“ fehlt die Empathie, um den Schmerz zu verstehen, dem Autisten ausgesetzt sind…
Susanne Strasser: Es gibt viele Klischees rund um Autismus. Eines davon, ist die angebliche Gefühllosigkeit und damit auch der Mangel an Mitgefühl. Das stimmt definitiv nicht, ganz im Gegenteil, wird vermutet, dass Menschen mit Autismus sogar über ein Zuviel an Gefühlen verfügen. Das Problem besteht lediglich darin, dass sie ihre Gefühle selten so zeigen können, wie wir „Neurotypische“ es gewohnt sind. So reagieren sie in emotionalen Situationen oft mit stereotypen oder zwanghaften Verhalten, mit Selbstverletzungen oder laufen einfach weg, weil ihre Gefühle sie überfordern.
Das Paradoxe an der Situation ist, dass wir zwar Menschen mit Autismus ein „Defizit“ zuschreiben und sie als behindert titulieren, im gleichen Atemzug aber voraussetzen, dass sie die Welt so erleben und verstehen wie wir es tun. Ich sehe da tatsächlich das Defizit bei uns, da wir offensichtlich nicht in der Lage sind, uns in die Situation eines anderen Menschen hineinzuversetzen.
KJB: Gibt es einen typischen Autisten?
Susanne Strasser: Nein, den gibt es nicht. Jeder Mensch mit Autismus ist anders, einzigartig und unvergleichlich, deswegen spricht man auch von einem autistischen Spektrum was vereinfacht aussagt, dass die Bandbreite der Symptome innerhalb der Diagnose sehr groß ist und keinesfalls jeder Betroffene alle Symptome erfüllt. Auch die Ausprägung der einzelnen Symptome ist sehr unterschiedlich. So gibt es Menschen mit autistischer Wahrnehmung, die sehr viel und sehr gut sprechen und andere, denen ihr ganzes Leben kein Wort über die Lippen kommt. Manche sind hochbegabt, andere haben Lernschwierigkeiten. Der eine sucht Nähe und Körperkontakt, dem anderen ist sogar die eigene Kleidung am Körper unerträglich.
KJB: Was wäre ihrer Meinung nach der Schlüssel zu einem Leben mit einem autistischen Kind? Oder auch einem autistischen Erwachsenen?
KJB: Was spielt Hypersensibilität für eine Rolle in einem autistischen Leben?
Susanne Strasser: Hypersensibilität ist ein zentrales Kriterium bei Autismus. Jeder Mensch mit Autismus hat eine veränderte Wahrnehmung, ich spreche in diesem Zusammenhang von Wahrnehmungsbesonderheiten. Dass jemand wenig hört oder schlecht sieht, ist uns vertraut. Aber dass jemand zu viel hört, sieht, fühlt, riecht etc. ist den meisten neu. Menschen mit autistischer Wahrnehmung leben meist in einer Welt, die für ihre Wahrnehmung zu laut, zu hell, zu intensiv und zu schnell ist. Dadurch ist ihr System ständig überlastet, was nicht ohne Folgen bleibt. Sie müssen Strategien entwickeln, um in der unkontrollierbaren Umwelt überleben zu können. Diese Strategien reichen von Rückzug, selbstverletzendem oder zwanghaftem Verhalten bis zu totalen Zusammenbrüchen (sog. Meltdowns). Dieses Verhalten wird dann von der Umwelt als störend und deviant wahrgenommen. Dabei ließe sich das durch Rücksichtnahme auf die besondere Wahrnehmung verhindern.
KJB: Wird es irgendwann möglich sein, die „schwierigen“ Seiten des Lebens für Autisten leichter zu machen?
Susanne Strasser: Daran glaube ich ehrlich gesagt nicht. Es gibt keine Medizin gegen Autismus, weil es keine Krankheit ist, die man heilen kann. Also läge es an der Gesellschaft, Menschen mit Autismus das Leben leichter zu machen. Man kann zwar Gesetze ändern, um Menschen mit Autismus den gesellschaftlichen Zugang zu erleichtern, aber die Einstellung der Menschen ist nur schwer zu ändern.
KJB: Laut Studien arbeiten Forscher an einem Bluttest, der eine frühe Diagnose des Autismus möglich machen soll. Würde das irgendetwas ändern?
Susanne Strasser: Pränataldiagnostik hat Vorteile und viele Nachteile. Einerseits könnten sich Eltern rechtzeitig darauf einstellen, ein besonderes Kind zu bekommen. Allerdings stellt sich die Frage, ob Eltern sich für ein Kind mit Autismus entscheiden würden? Mir erscheint es zudem nicht zumutbar, werdenden Eltern die Entscheidung zu überlassen, ob sie ein Kind mit Autismus zur Welt bringen wollen oder nicht. Außerdem würde diese Möglichkeit in den Köpfen der Menschen bedeuten, dass jeder Autist zu „vermeiden“ gewesen wäre. Diese Denkweise sollte nicht gefördert werden.
KJB: Sie als Mutter eins autistischen Kindes, was möchten Sie den Eltern mit auf den Weg geben, um das Leben vielleicht ein wenig einfacher gestalten zu können?
Susanne Strasser: Das Leben mit einem Kind mit Autismus ist nicht immer einfach. Aber es liegt an uns, was wir daraus machen. Mit ein wenig Gelassenheit und Humor lebt es sich deutlich einfacher. Und wenn es einem schwerfällt, von sich aus einen Weg zu finden, damit umzugehen, dann sollte man sich unbedingt helfen lassen. Das Besuchen von Selbsthilfegruppen, die Inanspruchnahme einer Psychotherapie oder medikamentöse Hilfen sind kein Zeichen von Schwäche, sondern zeigen, dass man Verantwortung übernimmt.